Wie wir wurden, was wir sind. Von ersten Gehversuchen, norwegischen Blockhäusern und einem doppelten Baby für die Nordschleife: die tst-Story, Teil 1.
Es ist Samstagabend, der 18. Mai 2013. Über der altehrwürdigen Nürburgring-Nordschleife bricht Dunkelheit herein. In Wellen prasselt der Eifelregen herab, Nebel quellen auf. Eigentlich würde niemand bei diesem Wetter auch nur seinen Hund vor die Tür jagen. Doch 200.000 Unentwegte kümmert das alles scheinbar nicht. Sie feiern ihr 24-Stunden-Rennen in ihrer Grünen Hölle. Einmal im Jahr herrscht in den Wäldern rund um die alte Raubritterburg absoluter Ausnahmezustand. Und das gilt nicht allein für die Menschen am Streckenrand, sondern auch für ihre Helden an den Volants, denen sie mit ihrem drückenden Bassgewummer Runde um Runde zuzujubeln scheinen. Mittendrin im Getümmel der Profi-Teams mit Werksunterstützung, der Semi-Privaten und der hoffnungslosen Idealisten: ein Mercedes-Benz 190 E 2.5-16 – eine Tourenwagen-Legende aus den frühen Neunzigerjahren, die natürlich auch ihre Fans hat. Einer der drei Steuer-Leute im Cockpit ist ein ehemaliger Seemann. Für Thorsten Stadler ist es trotzdem nicht das erste Mal beim Happening zweimal rund um die Uhr. Neun Jahre zuvor tritt er bereits mit einem Paukenschlag in Erscheinung …
Rückblende: Samstag, 12. Juni 2004, 32. ADAC-24-Stunden-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife. In der Kategorie der alternativen Kraftstoffe ist auch ein VW New Beetle mit von der Partie, den ein 1,9 Liter großer Dieselmotor antreibt. Am Lenkrad lösen sich der Musiker Michael B. Schmidt alias „Smudo“, der ehemalige DTM-Fahrer Thomas von Löwis of Menar, der Nordschleifen-Intimkenner Michael Irmgartz und Thorsten Stadler aus Hannoversch-Münden ab. Nicht nur der populäre Rap-Künstler bringt das ungleiche Fahrerquartett in die Schlagzeilen, sondern insbesondere ein kurioser Zieleinlauf. Nach 24 Stunden droht der Turbodiesel-Käfer, die letzten Meter aus eigener Kraft nicht mehr zu überstehen. Ein Schweizer Boxennachbar erkennt das aufziehende Drama und schiebt den waidwunden Volkswagen über den rettenden Zielstrich. Die Menge tobt und hat ihren Helden gefunden. Der „Smu“ von den Fantastischen Vier ist für sie der Sieger – und Thorsten Stadler ist mittendrin. Dabei hat der Mercedes-Spezialist erst drei Jahre zuvor mit dem Rennen fahren begonnen – 2001 steigt er in den Bördesprint in der Motorsport Arena Oschersleben ein, 2002 nimmt er zum ersten Mal am ADAC-24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring teil. Dem geht unmittelbar nach der Jahrtausendwende die Anschaffung des ersten eigenen Renntourenwagens voraus: ein seltener Mercedes-Benz 190 E 2.5-16 Evo 1 des Modelljahrgangs 1989. In jenem Jahr fängt der ehemalige Seemann damit an, einen 190er auf der Straße zu fahren. Er findet Gefallen an der Aufgabe, den aufwändig konstruierten Viertürer möglichst lange zu erhalten. Zwangsläufig macht er sich mit der Stern-Materie vertraut, sammelt Fachwissen, Ersatzteile und ermittelt deren Beschaffungswege. Freilich ist das alles nicht viel mehr als nur ein Hobby, wenn auch ein anspruchsvolles. Auch als er bereits eine Replika der 1993 und 94 in der DTM eingesetzten Klasse-1-Ausführung des 190ers auf der Nürburgring-Nordschleife vom Zügel lässt, ist er im Hauptberuf kein Technik-Gelehrter. Statt dessen verkauft er norwegische Blockhäuser.
Als die drei Jahre währende Ära des VW New Beetle 2006 schließlich endet, ist Thorsten Stadler aus einer Scheune in eine professionelle Werksatt umgezogen. Aus dem Hobby und Nebengewerbe baut sich ein neues Geschäftsfeld auf. 2008 ergibt sich am Rande des Nürburgrings die Bekanntschaft mit Jörg Hatscher aus Oldenburg. Der Selfmade-Unternehmer von der südlichen Nordsee, wie er selbst zu sagen pflegt, ist wie er ein geradezu fanatischer Anhänger des Mercedes-Benz 190 E 2.5-16 Evo 1 – den er „Baby 1“ tauft. Die beiden machen von Stunde an gemeinsame Sache, gehen bei den Langstreckenrenen auf der Nordschleife an den Start. Auf „Baby 1“ folgt, der Logik folgend, „Baby 2“: ein Mercedes-Benz 190 E 2.5-16 Evo 2. 2011 siedelt Thorsten Stadler mit seinem Betrieb innerhalb Hannoversch-Mündens in ein ehemaliges BMW-Autohaus um. Das Unternehmen wächst, eine Wortspielerei macht die Runde: tst sport und technik. Einerseits ist das ein klarer Hinweis auf die Initialen des Inhabers, auf der anderer Seite ein sporthistorisches Zitat aus den späten Achzigerjahren. „st“ – sport und technik: Das ist einmal ein Markenzeichen zu Zeiten des Mercedes-Werksengagements in der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft, kurz: DTM, gewesen. In seinem Unternehmen etabliert Stadler verschiedene Fachabteilungen. Die eine widmet er den Einsätzen im Motorsport, eine andere den zunehmend wichtiger werdenden Restaurationen, wieder eine andere dem Motoren- und Getriebebau. Darüber hinaus legt er einen umfassenden Fundus sowohl originaler als auch nachproduzierter Teile an. Die Liebe zum 24-Stunden-Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife bleibt, und (mindestens) elf Jahre lang bezieht sie sich auf den Typ W 201 von Mercedes-Benz. Am 8. Dezember 1982 vorgestellt, wird der viertürige Personenkraftwagen bis August 1993 mehr als 1,8 Millionen Mal produziert. Schon sein erstes Rennen zweimal rund um die Uhr bestreitet Thorsten Stadler im Juni 2002 mit einem solchen Modell. Seine Mitfahrer damals: drei Versuchsingenieure des Hannoveraner Reifenherstellers Continental. Am 18. Mai 2013 sitzen Stadler, Jörg Hatscher und Sebastian Sauerbrei im Mercedes-Benz 190 E 2.5-16 Evo 2. Trotz des kapriziösen Eifelwetters und einer stundenlangen Rennunterbrechung in der Nacht bringen sie „Baby 2“ ohne einen Kratzer über die Distanz. Nur ein paar Steinschläge müssen später nachfoliert werden. Auch in der VLN, der Langstrecken-Meisterschaft Nürburgring, setzt das neu gegründete Intax Motorsport Team seinen Entwicklungsweg fort. Dieser führt auch zu den Gleichmäßigkeitsprüfungen, kurz: GLP, des Tourenwagen Revivals. Die ewigen Publikumslieblinge der DTM in ihrem ersten Lebensabschnitt von 1984 bis 1996 haben dort ein Zuhause gefunden – bis auf weiteres. Denn eines schönen Tages im August 2015 fordert einer der Teilnehmer: „Lass uns doch mal richtige Competition machen, richtige Rennen fahren, nicht nur auf Sollzeit unsere Runden drehen!“ Aber das ist eine andere Geschichte – genau wie das, was zu dieser Zeit passiert: Der Aufbau eines beispiellosen Kompetenzzentrums für die Klasse 1-Version der C-Klasse von Mercedes-Benz, einer Dream Garage, verdient ein eigenes Kapitel – demnächst an dieser Stelle hier zu lesen.
Verantwortlich für Inhalt und Fotografie: Carsten Krome Netzwerkeins
Lesedauer: 5 Minuten
Besuch in Thorsten Stadlers #DreamGarage: jetzt auf YouTube anschauen!
In der Bildergalerie: zehn alte und neue Aufnahmen, die Sie begeistern werden – mit den Pfeilen links und rechts an der Seite scrollen Sie weiter!
© Carsten Krome Netzwerkeins